BayHStA Staatsrat 263
11 Blätter. Unterschriften des Königs und des Ministers. Protokoll: Kobell.
Anwesend:
Kronprinz Ludwig.
Staats- und Konferenzminister: Montgelas.
Geheime Räte: Graf v. Preysing-Hohenaschau; Ignaz Graf v. Arco; Graf v. Toerring-Gutenzell; Freiherr v. Weichs; v. Zentner; Graf v. Thurn und Taxis; Franz v. Krenner; Carl Maria Graf v. Arco; Freiherr v. Asbeck; v. Feuerbach; Graf v. Welsberg.
Gerichtsverfahren gegen den Generalkommissär Freiherrn v. Gravenreuth und den Kreisdirektor Raiser
Feuerbach untersucht die Frage, ob Gravenreuth und Raiser vor Gericht gestellt werden sollen. Ihnen werden Fälschung und Begünstigung der Verbrechen Dritter vorgeworfen. Feuerbach führt in den Sachstand ein und legt ein ausführliches juristisches Gutachten vor. Er beantragt, die beiden Beschuldigten vor Gericht zu stellen und schlägt vor, das Verfahren beim Appellationsgericht in Ansbach zu führen. In der Umfrage zeigen sich ganz unterschiedliche Einschätzungen der Rechtslage durch die Geheimen Räte. Aufgrund einer Mehrheitsentscheidung beschließt der Geheime Rat, die Untersuchungsakten an ein geeignetes Appellationsgericht zu senden. Dieses hat ein abschließendes Urteil zu fällen, das vor der Publikation dem König zur Bestätigung vorzulegen. Der König formuliert einen ausführlichen Beschluß.
{1r} Bei Verhinderung Seiner Majestät des Königs, der auf heute angeordneten geheimen Raths-Versammlung beizuwohnen, geruheten Seine Königliche Hoheit der Kronprinz, Höchstwelche den Vorsiz {1v} führten, den geheimen Rath von Feuerbach aufzufordern, den bearbeiteten Vortrag über die Frage: Soll der General Komißär Freiherr von Gravenreuth1404 und der Kreis Direktor Raiser1405 wegen Fälschung und Begünstigung fremder Verbrechen vor Gericht gestellt werden?
Diesem höchstem Auftrage gehorsamst entsprechend erstatteten geheimer Rath von Feuerbach den anliegenden lytographirten Vortrag1406 *Beilage I* [Marginalie] über diesen Gegenstand, und führten darin die That und Geschichte dieses Prozeßes nach folgender Ordnung aus.
Dieselben legten zuerst die Vorgeschichte dieser Sache vor, giengen dann zur Veranlaßung der gesezwidrigen Handlung des Freiherrn von Gravenreuth und Raiser über, stellten den Thatbestand der Übertretung so wie die Veranlaßung zur General-Untersuchung auf, und lasen die Vertheidigungs-Schrift des Freiherrn von Gravenreuth so wie die Entschuldigungs Gründen des Direktors Raiser ab *Beilagen II et III* [Marginalie]1407.
Geheimer Rath von Feuerbach legten hierauf die Meinung vor, welche der Referent des Appellazions-Gerichtes des Illerkreises bei erstattetem Vortrage in dem Appellazions Gerichte gehabt, und lasen aus dem Original-{2r}Referate selbsten auf Begehren mehrerer geheimen Räthe die Gründen [!] und Ansichten des Appellazions-Gerichtes ab, welche denselben bestimmt, bei dem Appellazions-Gerichte des Iller-Kreises darauf anzutragen, daß mit Umgehung der Special-Inquisition sogleich in der Hauptsache zu sprechen, da die zu bestrafende Thatsache selbst, vollkommen hergestellt, von beiden Inkulpaten alles wiederholt eingestanden, und alles, was zu ihrer Vertheidigung gesagt werden könne, schon vollständig angebracht worden, und es folglich auf nichts weiter ankomme, als auf die rechtliche Beurtheilung selbsten.
Diese Meinung des Referenten seie von dem Collegium nicht angenommen, sondern am 24 Dezember vorigen Jahres Folgendes beschloßen worden: 1) Aus den in dem Referate angeführten Gründen müße die Handlung des Freiherrn von Gravenreuth und des Kreisdirektors Raiser, oder die Ausstellung der Note vom 30ten Juli 1811 allerdings als ein falsum juridicum angesehen werden, und es seie ihrer in den Vertheidigungs-Schriften angebrachten Gründen ohngeachtet dennoch nach den Gesezen eine förmliche Untersuchung gegen diese beide Staatsdiener zu verhängen, bei welcher zugleich {2v} der Veranlaßung dieser Handlung näher nachgespürt, daher dem angeblichen Viehankauf des Freiherrn von Gravenreuth in Vorarlberg respec. der Bezalung deßelben beßer auf den Grund zu kommen getrachtet werden müße.
2) Man könne daher mit dem weiteren Antrage des Referenten, daß ohne fernere förmliche Untersuchung gegenwärtig schon auf die vorliegende Defensions Schriften, eine Aburtheilung statt finden könne und solle, auch daß auf diese Art das Gutachten zu erstatten seie, nicht verstanden seie [!].
Am 24 Dezember 1811, praes. 23. Jänner 1812 seie diesem Beschluße gemäs berichtliches Gutachten an Seine Majestät den König erstattet worden, welches am 24 Jäner samt Akten Ihnen von Feuerbach zum Gutachten im geheimen Rathe zugestellt worden. Geheimer Rath von Zentner erlaubten sich die Frage aufzuwerfen, ob Hecht1408 noch eines andern Verbrechens als der Weinunterschlagung, welche 125 fl., betrage, durch die kriminelle Untersuchung überwiesen worden, indeme dieses auf den vorliegenden Fall einwirken könnte.
Geheimer Rath von Feuerbach beantworteten diese Frage dahin, daß sich in der Untersuchung gegen den Rentbeamten Hecht nichts weiteres als die {3r} bekannte Weinunterschlagung herausgeworfen, indeme er als ein verschmizter Kopf nichts weiteres eingestanden, allein nach oesterreichschen Gesezen stehe darauf eine weit schärfere Strafe, als das Appellazions Gericht des Illerkreises hierauf erkannt. Nach eingesendetem Erkenntniße seie derselbe zu 8monatlichem schweren Kerker verurtheilt worden und das oesterreichische Gesezbuch bestimme, wenn Sie sich nicht irrten, 3 bis 6jährigen schweren Kerker auf derlei Unterschlagungen1409.
Geheimer Rath von Feuerbach legten hierauf Ihre Gutachten über den zu entscheidenden Fall vor, und zwar zuerst in der Haupt-Sache.
Bei der Stelle dieses Gutachtens, wo die Behauptung des Freiherrn von Gravenreuth und Raiser, daß ihnen nur ein Fragment der Hächtschen [!] Vertheidigungs Schrift mitgetheilt worden, von dem Referenten als eine grobe Unwahrheit hingestellt wurde, begehrten mehrere geheimen Räthe die Ablesung des Kommunikates an das General-Kommißariat des Oberdonau-Kreises nebst der Inlage aus den Appellazions-Gerichts-Akten.
Geheimer Rath von Feuerbach lasen das Konzept dieses {3v} Kommunikates, und die darauf zum Abschreiben bezeichnete Stellen der Hächtschen Vertheidigungs Schrift vor, und zeigten dadurch, daß in diesen Stellen nicht nur die vollständige Erzählung des Höcht [!] über die angeblich von ihme geleistete Restituzion enthalten, sondern auch dabei bestimmt die Absicht ausgedrükt, zu welcher dem Höcht diese Erzählung dienen sollte, nämlich Befreiung von aller Strafe, ja es seie darin auch die oesterreichsche Gesezes-Stelle, welche solcher Restituzion die Wirkung der Straflosigkeit beilege, nicht etwa blos angeführt, sondern sogleich im Eingange wörtlich abgeschrieben.
Geheimer Rath Graf Carl [Maria] von Arco bemerkten, daß man aus dem Konzepte nicht mit Bestimmtheit abnehmen könne, daß diese angeführte Stellen wirklich in dem Kommunikate an das General-Kommißariat des Oberdonau-Kreises enthalten, indeme aus einem nicht seltenen Kanzlei Verstoße die Abschreibung und wirkliche Expedirung der von dem geheimen Raths Referenten angegebenen Stellen unterblieben sein könne. Um hierüber gewiß zu sein, wäre die Einsicht des General-Kommunikats und der Inlage erforderlich.
Da aus der Vertheidigung {4r} des Freiherrn von Gravenreuth ersichtlich war, daß er die Stelle aus der Hächtschen Schrift, so wie sie auf dem Konzepte bemerkt, wirklich mitgetheilt erhalten haben müße, so fuhren geheimer Rath von Feuerbach in ihrem Gutachten fort, beleuchteten und widerlegten folgende Gründe, welche Freiherr von Gravenreuth und Direktor Raiser für sich angeführt, um alle Schuld von sich abzuwenden, oder doch dieselbe zu verringern.
I) Es ermangle ihrer Handlung der dolus1410, ohne welchen kein falsum möglich seie, denn 1) sie seien von den dem Rentbeamten Hecht angeschuldigten Verbrechen nicht gehörig unterrichtet gewesen, das Appellazions Gericht habe ihnen nur ein Fragment der Hechtschen Defensions Schrift kommuniziret. 2) Mit den Rechten unbekannt, hätten sie nicht gewußt, nach welchen Gesezen die Sache zu beurtheilen seie; sie hätten keine hinlängliche Kenntniß gehabt von dem wahren Sinne des § 167 des oesterreichschen Gesezbuches1411. Die Note vom 30ten Juli vorigen Jahres seie daher nur gestellt worden unter der Voraussezung, Hecht habe durch die Erlegung des Geldes sein Verbrechen ersezt, und es komme dabei auf das Datum des geleisteten Ersazes weiter nicht an, es seie {4v} gleichviel, ob das Jahr 1809 oder das Jahr 1811 gesezt werde. 3) Es seie die Handlung blos aus Gefühl des Mitleides für einen brauchbaren Beamten und deßen unglükliche Familie geschehen. Endlich 4) gehe die Abwesenheit des dolus klar daraus hervor, daß sobald Freiherr von Gravenreuth und Direktor Raiser über den wahren Standpunkt belehret worden, beide sogleich Ihre vorige Außage zurükgenommen hätten.
Bei der Stelle dieses Gutachtens, wo der Referent auf einen früheren in dem geheimen Rathe wegen der dem Freiherrn von Gravenreuth angeschuldigten Bestechung durch Voralbergsche [!] Kühe erstatteten Vortrag zurükkam1412, und des muthwillig scherzenden Tones erwähnte, in welchem der Rentbeamte Hecht an den General Kommißär Freiherrn von Gravenreuth geschrieben, bemerkten geheimer Rath Graf Carl [Maria] von Arco, daß es nicht Hecht, sondern Kutter1413 gewesen, der in diesem Tone mit Freiherrn von Gravenreuth korrespondiret.
Geheimer Rath von Feuerbach leiteten aus den in dem Vortrage enthaltenen und ausgeführten Gründen den allerunterthänigsten Antrag ab: „daß das Gutachten des Appellazions-Gerichtes des Illerkreises genehmiget, und daher {5r} der General-Kommißär Freiherr von Gravenreuth und der Kreis Direktor Raiser vor Gericht gestellt werden“.
Sie glaubten diesen Antrag durch die nähere Entwiklung des ganzen Verlaufes hinlänglich gerechtfertiget, führten jedoch in dem Vortrage noch die Ursachen an, aus welchen die gerichtliche Spezial-Untersuchung nicht dem Untergerichte in Eichstädt, welches eigentlich das forum ordinarium der beiden Inkulpaten seie, so wie die Entscheidung nicht dem Appellazions-Gerichte des Illerkreises noch jenem des Oberdonau Kreises übertragen, sondern um die strengste Unpartheilichkeit zu bewähren, die Untersuchung nicht einem Untergerichte, sondern einem Appellazions-Gerichte aufgetragen, und ein anderes Appellazions Gericht als das zu Memmingen oder Neuburg hiezu bestellt werden möge.
Geheimer Rath von Feuerbach fügten diesem schriftlichen Antrage die Bemerkung bei, daß das Appellazions-Gericht, welchem diese Spezial-Untersuchung aufzutragen, in dem Antrage nicht genannt worden, indeme diese Benennung Sache des Justiz Ministeriums seie. Sie glaubten aber, daß das Appellazions-Gericht in {5v} Ansbach das geeigneteste sein könnte, auch legten Sie dem geheimen Rathe folgende Motifikazion Ihres Hauptantrages vor.
Sie glaubten, daß da dieser Fall nach gemeinen Rechten entschieden werden müße, nach welchen mit Verhängung der Spezial-Inquisizion Infamie verbunden1414, das Gehäßige dieser Maaßregel umgangen, und dem hiezu benannt werdenden Appellazions-Gerichte unter Zufertigung der Akten, ohne auszusprechen, daß die Special-Inquisizion verhängt seie, aufgegeben werden könnte, die weitere Untersuchung dieses Falles und deßen Entscheidung zu veranlaßen, und den Freiherrn von Gravenreuth so wie den Direktor Raiser, falls daßelbe es nothwendig finde, zu Beantwortung einzelner Fragstüke aufzufordern.
Seine Königliche Hoheit der Kronprinz geruheten, über diese Anträge abstimmen zu laßen.
Seine Excellenz, der königliche geheime Staats- und Konferenz Minister Herr Graf von Montgelas wiederholten, da Sie bei dem Vortrage des zur Entscheidung vorliegenden Falles nicht ganz gegenwärtig waren, das factum, worauf es ankomme, und äußerten, daß bei dem sowohl gerichtlich als außergerichtlich von dem Freiherrn von Gravenreuth und dem Direktor Raiser {6r} abgegebenen Eingeständniße es Ihren Ansichten nach keinem Zweifel unterliegen könne, daß die Entscheidung dieses Falles zu den Justiz-Stellen sich eigne. Nur diese und nicht die Administrativ-Stellen könnten beurtheilen, ob das vom Freiherrn von Gravenreuth und Raiser abgegebene erste falsche Zeugniß, wodurch, wenn es wahr gewesen, nach oesterreichschen Gesezen Hächt rüksichtlich seiner Veruntreuung straflos geblieben sein würde, ein Verbrechen, von welcher Natur daßelbe, dann mit welcher Strafe es zu belegen seie. Nur die Justiz Stelle könnte entscheiden, in wie weit die vom Freiherrn von Gravenreuth und von Raiser angebrachten Rechtfertigungs-Gründe eine Würdigung und mildernde Rüksicht verdienten. Die Verhängung einer Spezial-Inquisizion scheine Ihnen aber bei der hergestellten Thatsache und dem eigenen gerichtlichen und außergerichtlichen Geständniße der Angeschuldigten überflüßig, und zu nichts weiterem zu führen, als was dem Gerichte bereits bekannt.
Sie würden daher an Seine Majestät den allerunterthänigsten Antrag machen, den vorliegenden Gegenstand mit Umgehung der Spezial {6v} Inquisizion dem geeignet findenden Appellazions Gerichte zur weiteren Behandlung und Aburtheilung zu übergeben. Welches Appellazions-Gericht hiermit beauftragt werden wolle, gehöre zur Execution, und seie nicht Sache des königlichen geheimen Rathes, so wie derselbe auch nicht hineinzugehen ermächtiget, dem Appellazions-Gerichte vorzuschreiben, ob es nach den vorliegenden Akten sprechen solle, oder vorher noch weitere Ersezungen nothwendig finde.
Geheimer Rath Graf Carl von Preising stimmten ad mitiorem, denn nach Ihren Ansichten wäre das mildere Gesez des baierischen Cod. Crim. I Th. Cap. 9 § 21415 et mot. ad a et b1416 hier anzuwenden, und in Folge deßen der vorliegende Fall nicht als kriminell zu erklären, indeme der freiwillig geleistete Ersaz von 500 fl. mehr als die Schuld betrage, mithin ein damnum datum1417 nicht obwalte. Dieses Factum nach baierischen Gesezen beurtheilet, glaubten Sie daher, daß Freiherr von Gravenreuth und Direktor Raiser nicht vor Gericht gestellt, sondern die vorgetragene Acta zum geeigneten Ministerium zurükzugeben seien.
{7r} Geheimer Rath Graf von Arco der ältere [d.i. Ignaz] gaben Ihre schriftliche Abstimmung1418 zu Protokoll, *Beilage IV* [Marginalie] nachdem Sie dieselbe abgelesen hatten, und waren der Meinung daß nach milderen Ansichten der Antrag des Referenten des Appellazions-Gerichtes des Illerkreises aus den von demselben dargelegten Gründen angenommen werden mögte.
Geheimer Rath Graf von Törring äußerten, daß Sie nach reifer Überlegung und nach Würdigung der in dem Vortrage enthaltenen Thatsachen und angegebenen Gründen der Meinung seien, daß keine Spezial-Inquisizion weder nach gemeinen noch nach baierischen Rechten verhängt, sondern daß über die vorliegende Akten von dem geeignet befunden werdenden Appellazions-Gerichte, an welches sämmtliche Akten, jedoch mit Zurükbehaltung der geheimen Raths Akten zu senden wären, gesprochen, und das Urtheil vor der Verkündigung an die allerhöchste Stelle zur Bestätigung eingesendet werden sollte.
Geheimer Rath Freiherr von Weichs stimmten für die Vorgerichts-Stellung des {7v} Freiherrn von Gravenreuth und Direktor Raiser, da nach dem Vortrage und den Akten Ihren Ansichten nach nichts anders zu thun übrig bleibe, und der geheime Rath nach der Konstituzion blos über diese Frage zu entscheiden habe1419, jedoch könnten Sie sich dazu verstehen, daß wegen den damit verbundenen schweren Folgen die Verhängung der Spezial-Inquisizion nicht ausgesprochen werde.
Geheimer Rath von Zentner entwikelten Ihre Ansichten über den vorgetragenen Gegenstand in beiliegender schriftlicher Abstimmung1420 *Beilage V* [Marginalie] und vereinigten sich aus den angegebenen Gründen mit dem abgegebenen Voto des Referenten des Appellazions-Gerichtes des Illerkreises, daß die Untersuchungs Sache des Freiherrn von Gravenreuth und Direktor Raiser mit Umgehung einer Spezial-Inquisizion dem geeigneten Appellazions-Gerichte zu Erholung der allenfalls noch nöthig findenden Ersezungen und zur definitiven Aburtheilung mit dem Baisaze übergeben werde, daß das gefällte Urtheil vor der Publikazion {8r} zur allerhöchsten Bestätigung eingesendet werden solle.
Geheimer Rath Graf von Tassis äußerten Ihre Ansichten in dem vorliegenden Gegenstande in dem beiliegenden Voto1421 *Beilage VI* [Marginalie] und waren der Meinung, daß von einer Vorgerichtstellung Umgang zu nehmen, und die definitive Aburtheilung des vorliegenden Vergehens nach der gegenwärtigen Aktenlage einer unpartheiischen Gerichts-Stelle übergeben, das Urtheil aber vor der Publication zur allerhöchsten Bestätigung einzusenden wäre.
Geheimer Rath von Krenner legten Ihre Meinung vor, wie Sie sich keineswegs überzeugen könnten, daß in der gegenwärtigen Sache das crimen falsi1422 vorliege. Sie beurtheilten die That blos als conatus1423, denn Ihren Ansichten nach gehöre zur Vollendung des criminis falsi das wirkliche damnum datum. Der bloße conatus, welcher noch obendrein durch eine reumüthige Revocation gemildert werde, würde nach Ihrer Meinung von den Gerichten ganz gewiß nicht so hoch bestraft werden, als die Erklärung des Eintrittes der Spezial-Inquisizion, welche auf Ehre und Dienst {8v} so außerordentlich nachtheilige Folgen habe, nach sich ziehen würde. Sie müßten sich also der eben geäußerten Meinung anschließen, daß die Sache, ohne der Spezial-Inquisizion zu erwähnen, einem dritten Appellazions-Gerichte geradezu zur Entscheidung übergeben werde, jedoch mit dem Anhange, daß wenn es noch Ersezungen nothwendig finden sollte, es solche machen laßen dürfe, und daß die Sentenz vor der Publikazion zur allerhöchsten Stelle eingesendet werden solle.
Geheimer Rath Graf von Arco äußerten, Ihrer Überzeugung nach könne in dem vorliegenden Falle keine Spezial-Inquisizion statt haben, weil hier aus Abgang des bösen Vorsazes doli mali kein Kriminal Verbrechen, sondern nur ein Amtsvergehen existire. Ihren Ansichten nach könne aber der Spruch irgend eines Gerichtshofes über die beiden Angeschuldigten ohne vorhergegangene Inquisizion eben so wenig statt haben, denn es wäre dieser Spruch in jedem Falle ein peinlicher Spruch, der ohne vorausgegangene Vorgericht-Stellung durch den geheimen Rath nicht gefällt werden könnte. {9r} Durch ein gegentheiliges Verfahren würde die Konstituzion des Reiches verlezt. Auch seie es eine große Frage: ob irgend ein Gerichtshof ohne vorläufige Spezial-Untersuchung ein definitives Urtheil zu erlaßen sich für berechtiget halten werde. Diesem zu Folge seien Sie der Meinung, die Beahndung oder Bestrafung dieses Amtsgebrechens an das Ministerium des Innern zu verweisen.
Geheimer Rath Freiherr von Asbek legten Ihre Ansichten über den vorgetragenen Gegenstand in anliegender Abstimmung1424 vor *Beilage VII* [Marginalie], und sezten darin den Wunsch voraus, daß bei der Berathung über diese wichtige, die Ehre eines der ersten Staatsbeamten so nahe berührende Sache die Stimmen der vier abwesenden Mitglieder des geheimen Rathes1425 aufgenommen werden mögten, waren aber, so wie die Sache gegenwärtig liegt, und nach der gegenwärtigen Stellung des geheimen Rathes der Meinung, daß nichts anderes geschehen könne, von dem geheimen Rathe auf nichts anderes angetragen werden dürfe, wenn er sich in seinen Schranken halten wolle, als daß die bisherige Verhandlungen an die {9v} geeignete Justiz-Stelle zur geeigneten Behandlung der Sache zurükgehen müßte, ohne alle nähere Instrukzion, ohne irgend einen andern Wink, ohne irgend eine maaßgebende Bestimmung; auch ob an diese oder jene Gerichts-Stelle, seie Sache des einschlagenden Ministeriums.
Seine Excellenz, der königliche geheime Staats- und Konferenz Minister Herr Graf von Montgelas stimmten dem Wunsche des geheimen Rath Freiherrn von Asbek, daß dieser Gegenstand bei vollständig beseztem geheimen Rathe berathen worden sein mögte, um so mehr bei, als einige Mitglieder des Justiz-Ministeriums nicht gegenwärtig gewesen1426.
Geheimer Rath Graf von Welsperg giengen von dem Prinzip aus, daß in dieser Sache kein Verbrechen, sondern nur ein Amts-Vergehen vorliege, und vereinigten sich daher mit dem Antrage des geheimen Rath von Zentner.
Da in Folge dieser Abstimmungen Seine Excellenz, der königliche geheime Staats- und Konferenz Minister Herr Graf von Montgelas den vorgetragenen Gegenstand an das geeignet befunden werdende Appellazions-Gericht {10r} ohne Verhängung einer Spezial-Inquisizion zur weiteren Behandlung und Aburtheilung geben wollten, die geheimen Räthe Grafen von Preising und Carl [Maria] von Arco die begangene Handlung als kein Verbrechen sondern als ein Amts-Vergehen beurtheilten, und für Rükgabe der Akten an das Ministerium des Innern stimmten, die geheimen Räthe Freiherr von Weichs und von Feuerbach auf die Vorgerichts-Stellung des Freiherrn von Gravenreuth und von Raiser antrugen, ohne jedoch die Verhängung der Spezial-Inquisition auszusprechen, geheimer Rath Freiherr von Asbek aber für die Vorgericht-Stellung ohne alle nähere Instrukzion, ohne irgend einen andern Wink, ohne irgend eine maaßgebende Bestimmung sich erklärten, so bildeten die übrigen 6 Mitglieder, die in ihren Abstimmungen rüksichtlich der Hauptansicht gleicher Meinung waren, die Mehrheit, und in Folge dieser wurde
beschloßen, an Seine Majestät den König den allerunterthänigsten Antrag zu machen, „daß sämmtliche Untersuchungs Akten wegen dem Freiherrn {10v} von Gravenreuth und den Direktor Raiser mit Zurükbehaltung der geheimen Raths-Akten an das geeignet gefunden werdende Appellazions-Gericht, jedoch ohne Verhängung einer Special-Inquisition zu Erholung der allenfalls noch nöthig findenden Ersezungen und zur definitiven Aburtheilung mit dem Beisaze übergeben werden mögten, das gefällte Urtheil vor der Publication zur allerhöchsten Bestätigung einzusenden.
Der König beschließt (8. März 1812), „daß die in dieser Sache verhandelten Acten des Appellations-Gerichtes des Illerkreißes an ein anderes Unserer Appellations Gerichte zur weiteren Behandlung und Aburtheilung übergeben werden; jedoch ohne eine Special Inquisition zu verhängen. Die Geheimen Raths Acten wegen diesem Gegenstande sind zurückzubehalten. Über die Frage: ob das mit diesem Gegenstande beauftraget werdende Appellations Gericht das gefällte Urtheil vor der Verkündung zu Unserer allerhöchsten Bestätigung einsenden solle? werden Wir Unserem Justiz Ministerium auf deßen Vortrag Unsere Entscheidung mittheilen, indeme derley auf die Execution des angenommenen Grundsazes sich beziehende Bestimmungen außer dem Wirkungskreiße Unseres Geheimen Rathes liegen“.
Anmerkungen
GüV, S. 87, § 167: „Jeder Diebstahl und jede Veruntreuung hört auf, ein Verbrechen zu seyn, wenn der Thäter eher, als die Obrigkeit sein Verschulden erfährt, den ganzen aus seiner That entspringenden Schaden wieder gut macht. Eben dieses gilt auch von der Theilnehmung.“ – Zum österreichischen Strafgesetzbuch von 1803 (publiziert am 3. September 1803, in Kraft seit 1. Januar 1804), das in der rechtsgeschichtlichen Forschung „[ü]berwiegend“ als „ein naturrechtlich beeinflußtes Gesetzeswerk mit konservativen Zügen“ charakterisiert wird, s. Hartl, Grundlinien, S. 37-44, Zitat S. 44.
Kreittmayrs Kriminalkodex (Codex Juris Bavarici Criminalis, 1751) handelt am angegebenen Ort von der „Verfälschung, zu Latein Falsum, wodurch die Wahrheit der Sach theils mit Worten, theils mit Wercken und Schrifften auf eine gefährlich- und andern zu Schaden gereichende Art verdrehet wird“. CJBC I 9 § 2, S. 43.
Die Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808 erklärte den Geheimen Rat für kompetent zu entscheiden, „ob ein Verwaltungs-Beamter vor Gericht gestellt werden könne oder solle“ (Tit. III § 2, RegBl. 1808, Sp. 993 = DVR Nr. 286, S. 659).
Crimen falsi: „das Verbrechen der Verfälschung“. Steinsdorff, Wörterbuch, S. 89.