Dem Bedeutungsverlust der Staatskonferenz seit 1803, der nur aufgrund besonderer Umstände 1808 kurzzeitig unterbrochen worden war, entsprach die zunehmend wichtige Rolle des Geheimen Rates im Verfassungsgefüge des jungen Königreichs9.
Die in der Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808 kurz umrissenen Organisationsprinzipien und Kompetenzen des Geheimen Rates10 wurden in einem vom Minister Montgelas am 20. April in der Staatskonferenz vorgetragenen11, am 22. Juni im Regierungsblatt publizierten Organischen Edikt12 in drei Abschnitten („Titeln“) näher entfaltet13.
Der erste Titel galt der „Konstituirung des Personals“. An erster Stelle stand der Inhaber der monarchischen Gewalt, der zusammen mit dem Kronprinzen den Sitzungen des Geheimen Rates beiwohnte14. Dieser setzte sich aus den Ministern sowie zwölf bis sechzehn, vom König zu ernennenden Geheimen Räten zusammen15. Dazu kamen die Kronbeamten16. Anders als es die Formulierung der Konstitution nahelegte17, wohnten sie den Sitzungen des Geheimen Rates nicht regelmäßig bei; sie konnten die Zusammenkünfte aber bei Anwesenheit in der königlichen Residenz besuchen18. Die Stelle des Generalsekretärs, das heißt des Protokollführers, erhielt der Geheime „Konferenz-Sekretär“19. Die Geheimen Räte bedurften der vom König eigens ausgesprochenen, jährlich erneuerten Ernennung20; erst nach ununterbrochener sechsjähriger Dienstzeit wurde die Berufung in den Geheimen Rat entfristet21. Damit kamen die Geheimen Räte zugleich in den Genuß der aus der Dienstpragmatik vom 1. Januar 180522 erwachsenen Gehalts- und Ruhestandsregelungen, sofern nicht schon vorher Versorgungsansprüche anderer Provenienz bestanden23.
Titel II umgrenzte den „Geschäftskreis des geheimen Raths“. Hier wurde als Folgewirkung der Kompetenzkompetenz des Königs betont, daß sich der Geheime Rat als „höchste berathschlagende Stelle in den wichtigsten inneren Angelegenheiten Unsers [sc. des Königs] Reiches“ nur auf Befehl des Königs versammeln durfte24. Ein Initiativrecht des Geheimen Rates bestand nicht; verhandelt wurden nur Gegenstände, die auf königlichen Befehl von den Ministern auf die Tagesordnung gesetzt wurden. Daraus folgte, daß „nie eine Vorstellung unmittelbar an den geheimen Rath gerichtet“ werden durfte; Adressat war immer der König25. Nur folgerichtig war es, daß „Geseze und Haupt-Verwaltungs-Verordnungen“ nach den „Grundzügen“ zu diskutieren und zu entwerfen waren, die dem Geheimen Rat vom König durch die Fachministerien mitgeteilt wurden26. Auch die Auslegung der Gesetze wurde vom König überwacht; darauf bezogene Gutachten des Geheimen Rates waren dem Monarchen vorzulegen27.
Der Geheime Rat war darüber hinaus Gerichtsstelle und entschied letztinstanzlich in „allen kontentiösen administrativen Gegenständen“28. Das waren im zeitgenössischen Verständnis, so die Erläuterung Nicolaus Thaddäus Gönners (1764-1827), „Rechtssachen, welche zwar […] streitige Rechte und Verbindlichkeiten im Privatrechtsverhältnisse angehen, aber theils die Staatsverwaltung mit berühren, theils nach besonderen administrativen Normen und Verordnungen zu entscheiden“ waren. Sie waren daher „gemischter Natur“29. Derartige durch Verwaltungshandlungen veranlaßte Rechtsstreitigkeiten waren den ordentlichen Gerichten entzogen und wurden durch Verwaltungsbehörden entschieden: „Man bezeichnet also damit Sachen, in welchen die Verwaltung eine Art von Richteramt ausübt, das mit dem Namen Administrativjustiz (Rechtspflege durch die Administration) belegt wird“30.
Befugnisse bei der Lösung von Streitfällen kamen dem Geheimen Rat insbesondere in zwei Fallgruppen zu: Erstens entschied er Kompetenzstreitigkeiten zwischen Gerichts- und Verwaltungsstellen, zweitens beurteilte er die Frage, ob straffällig gewordene Beamte vor ein ordentliches Gericht gestellt werden konnten und sollten31.
Titel III beschrieb schließlich den „Geschäftsgang“ im Geheimen Rat, der die ihm zugewiesenen Gegenstände in drei Sektionen – für Zivil- und Strafrecht, Finanzen und innere Verwaltung – bearbeitete und zum Vortrag in der Generalversammlung vorbereitete32. Die Aussprachen in der Generalversammlung des Geheimen Rates wurden vom Generalsekretär protokolliert. Weiter wird bestimmt, der Generalsekretär habe in den „durch wichtige innere Angelegenheiten des Reiches, oder durch die zu diskutirenden Gesez-Entwürfe“ veranlaßten Versammlungen jeweils „ein eigenes Protokoll“ zu führen, das dem König durch den zuständigen Minister zur Genehmigung vorzulegen sei. Offensichtlich hat Kobell im Verwaltungsalltag von der Vorschrift, für jeden „wichtige[n]“ Tagesordnungspunkt ein eigenes Protokoll anzufertigen, abgesehen, denn es liegen nur Protokolle vor, die alle Tagesordnungspunkte erfassen; das sind die Protokolle, die in der vorliegenden Reihe der „Protokolle des Bayerischen Staatsrats 1799 bis 1817“ ediert werden. Ferner hatte der Generalsekretär ein Einlaufverzeichnis anzulegen, die von ihm erstellten Protokolle zu verwahren und auf Verlangen Auszüge anzufertigen33.
Das Organische Edikt vom 4. Juni 1808 schrieb wöchentliche Zusammenkünfte des Geheimen Rates vor; dabei mußten zwei Drittel der Mitglieder anwesend sein34. Weitere Artikel regelten die stets an die königliche Sanktion gebundene Ausfertigung der Beschlüsse des Geheimen Rates erstens „in kontentiösen administrativen Sachen“, zweitens in Kompetenzstreitigkeiten der Gerichte und Verwaltungsstellen sowie drittens im Fall des Gerichtsverfahrens gegen einen Beamten35. Ebenso wurden Entschließungen des Geheimen Rates „in organischen Verwaltungs-Gegenständen“ im Namen des Königs ausgefertigt, wodurch sie als Dekrete Rechtskraft erlangten36. Keine Bedeutung erlangten die Vorschriften zur Abstimmung des Gesetzgebungsprozesses zwischen den Fachkommissionen der Nationalrepräsentation und den entsprechenden Sektionen des Geheimen Rates37 – die „Reichs-Versammlung“ trat niemals zusammen38.
In der Sitzung der Staatskonferenz vom 22. September 1808 wurden weitere Fragen der Geschäftsordnung des Geheimen Rates beraten, die im Organischen Edikt nicht thematisiert worden waren. Auf Antrag des Ministers Montgelas legte der König fest, daß die Geheimen Räte sich am Sessionstisch nach dem Dienstalter (dazu unten Kap. 3 a.E.) reihten, nicht aber entsprechend ihrer Zuteilung zu den Sektionen des Geheimen Rates, „weil lezteres zu mehreren Folgen Anlaß geben könnte“. Damit hing die Reihenfolge der Wortmeldungen im Geheimen Rat zusammen, die immer dann, wenn der Kronprinz oder ein Minister den Vorsitz führte, nach dem Dienstalter erfolgen sollten. Wenn der König den Sitzungen beiwohnte, sollte er, so schlug es Montgelas vor, nach Belieben jeden Geheimen Rat aufrufen dürfen, dessen Meinung er hören wolle. Der König genehmigte auch diesen Antrag seines Ministers39.
Schließlich erging im August 1810 eine Verordnung, die am 19. Juli im Geheimen Rat diskutiert worden war40. Sie präzisierte die Kompetenzen des Geheimen Rates durch die enumerative Auflistung von 17 besonderen Fallgruppen. In Rechtsstreitigkeiten, die diesen Fallgruppen subsumiert wurden, durfte die beschwerte Streitpartei – das war regelmäßig die nicht-staatliche Streitpartei – die Berufung zum Geheimen Rat auch dann nehmen, wenn zwei gleichlautende Beschlüsse der unteren Instanzen – in der Regel Landgericht und Generalkommissariat – vorlagen. Der Geheime Rat konnte die Beschlüsse der unteren Instanzen aufheben, bestätigen oder die Sache zurückverweisen. Aufgrund der besonderen sozialen, ökonomischen und politischen Bedeutung waren das insbesondere Streitigkeiten um die Auflösung und Verteilung der Allmende an die Gemeindeangehörigen („Kulturstreitigkeiten“), aber auch Konflikte um Gewerbeberechtigungen und die Entrichtung unterschiedlicher Steuern und Abgaben. Nähere Bestimmungen zum Fristenlauf und zu den Streitwerten im Berufungsverfahren ergänzten die Verordnung41.
Der durch die Konstitution des Staates gegründete, durch ein Organisches Edikt organisatorisch ausdifferenzierte Geheime Rat fungierte seit seiner Gründung als normenerzeugende und rechtsprechende Instanz, die auch für die „rechtliche Vorabkontrolle von Gesetzesvorhaben“ zuständig war42. Ähnlich wie der von Napoleon gegründete, bis heute bestehende französische Conseil d’État 43 war der Geheime Rat „unabhängiges Gericht und politische Verwaltung44 in einer Institution“45 und wurde zum zentralen Verfassungsorgan des Königreichs.
Anmerkungen
Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808, Tit. III §§ 2-3, RegBl. 1808, Sp. 993 = DVR Nr. 286, S. 659.
Organische Gesetze bzw. Edikte waren solche, die den Bestimmungen der Konstitution „theils zur näheren Erläuterung dienen, theils die Art und Weise ihres Vollzugs vorzeichnen“; Konstitution vom 1. Mai 1808 a.E., RegBl. 1808, Sp. 1000 = DVR Nr. 286, S. 662.
OE betr. die „Bildung des geheimen Raths“ vom 4. Juni 1808, RegBl. 1808, Sp. 1329-1335 = DVR Nr. 287, S. 663-667.
OE vom 4. Juni 1808, Tit. I, Art. 1 a.A., RegBl. 1808, Sp. 1329.
OE vom 4. Juni 1808, Tit. I, Artt. 1 a, 1 b, ebd. – Zur Gruppe der in der Adelsgesellschaft, bei Hof und in der Verwaltungselite deutlich herausgehobenen Geheimen Räte gehörten nicht nur die zwölf bis höchstens sechzehn Geheimen Räte des ordentlichen Dienstes, die zu den wöchentlich anberaumten Sitzungen in der Residenz zu erscheinen hatten, sondern auch die zuletzt für das Jahr 1809/10 explizit ernannten Geheimen Räte des außerordentlichen Dienstes (1812: 11 Personen), die nicht frequentierenden Geheimen Räte (1812: 58 Personen) sowie die Geheimen Titularräte (1812: 15 Personen). Ernennung 1809/10: RegBl. 1809, Sp. 1648f.; Namenslisten der Geheimen Räte: HStHB 1812, S. 139-141.
Kronbeamte waren der Kronobersthofmeister, der Kronoberstkämmerer, der Kronoberstmarschall und der Kronoberstpostmeister. Konstitution für das Königreich Bayern vom 1. Mai 1808, Tit. II § 10, RegBl. 1808, Sp. 991 = DVR Nr. 286, S. 658; entsprechend Reglement vom 28. Juli 1808 betr. die „Kron-Aemter des Reichs“, RegBl. 1808, Sp. 2109 = DVR Nr. 296, S. 796.
Konstitution für das Königreich Baiern vom 1. Mai 1808, Tit. II § 10, RegBl. 1808, Sp. 991 = DVR Nr. 286, S. 658: Die Kronbeamten wohnen „den Sizungen des geheimen Raths“ bei.
OE vom 4. Juni 1808, Art. 1 c, RegBl. 1808, Sp. 1329; so auch das „Reglement die Kron-Aemter des Reichs betreffend“ vom 28. Juli 1808, § 9, RegBl. 1808, Sp. 2110 = DVR Nr. 296, S. 797.
OE vom 4. Juni 1808, Art. 1 d, RegBl. 1808, Sp. 1329f.
Bekanntmachung betr. die „Ernennung der geheimen Räthe auf das Dienstesjahr 1809/10“ vom 28. September 1809, RegBl. 1809, Sp. 1647f.; Bekanntmachung betr. die „Ernennung der geheimen Räthe für das Dienstesjahr 1810/11“ vom 1. Oktober 1810, RegBl. 1810, Sp. 875; Bekanntmachung betr. die „Ernennung der geheimen Räthe auf das Dienstjahr 1811/12“ vom 30. September 1811, RegBl. 1811, Sp. 1492; Bekanntmachung betr. die „Ernennung der geheimen Räthe auf 1812/13“ vom 30. September 1812, RegBl. 1812, Sp. 1817.
OE vom 4. Juni 1808, Art. 2, RegBl. 1808, Sp. 1330.
VO betr. die „Verhältnisse der Staatsdiener, vorzüglich in Beziehung auf ihren Stand und Gehalt“ vom 1. Januar 1805, RegBl. 1805, Sp. 225-241 = DVR Nr. 258, S. 426-436.
OE vom 4. Juni 1808, Tit. II, Art. 5, RegBl. 1808, Sp. 1331f.
Jordan, Administrativjustiz, S. 134f. (Sperrungen nicht übernommen). Wie der Verwaltungsrechtler Joseph Pözl (1814-1881) in seinem zuerst 1856 erschienenen Lehrbuch ausführte, wurden administrativ-kontentiöse Gegenstände nicht vor den Zivilgerichten, sondern im Rahmen der Administrativjustiz verhandelt, weil man von der Meinung ausging, „daß bei Entscheidung gewisser Streitsachen auch auf den Staat und auf die Wohlfahrt des Ganzen Rücksicht genommen werden müsse“. Die Verhandlungen fanden folgerichtig vor den Tribunalen jener Behörden statt, denen die „Wahrung und Förderung des öffentlichen Wohls“ zur Aufgabe gestellt war. Pözl, Lehrbuch, S. 130.
OE vom 4. Juni 1808, Tit. II, Artt. 7 a, 7 b, RegBl. 1808, Sp. 1332.
OE vom 4. Juni 1808, Tit. III, Art. 8, RegBl. 1808, Sp. 1334.
Dazu die Vorschriften der Konstitution vom 1. Mai 1808, Tit. IV, §§ 6-7, RegBl. 1808, Sp. 997 = DVR Nr. 286, S. 661 i.Vb. mit OE vom 4. Juni 1808, Tit. III, Artt. 10-11, RegBl. 1808, Sp. 1334f. = DVR Nr. 287, S. 666.
Zur niemals zusammengetretenen Nationalrepräsentation der Konstitution von 1808 (s. Tit. IV, RegBl. 1808, Sp. 996f. = DVR Nr. 286, S. 660f.) vgl. Götschmann, „Nationalrepräsentation“; Paringer, Volksvertretung; Aretin, König Maximilian I.
Protokolle Bd. 3, Nr. 17 (Staatskonferenz vom 22. September 1808), TOP 11, S. 257f., Zitat S. 258.
VO betr. die „Vervollständigung der Kompetenzregulirung des königlichen geheimen Rathes in administrativ, polizeilich und finanziellen Gegenständen“ vom 8. August 1810, RegBl. 1810, Sp. 642-646 = DVR Nr. 287/1, S. 667-669.
Als politische Verwaltung soll hier mit Hesse/Ellwein, Regierungssystem, S. 465, derjenige Teil der Verwaltung verstanden werden, in dem „Führungshilfe, Entscheidungsvorbereitung für die politische Spitze sowie Beobachtung und Planung samt den sich daraus ergebenden Führungstätigkeiten für die Verwaltung selbst erbracht werden“.