BayHStA Staatsrat 296

5 Blätter. Unterschriften des Königs und des Ministers. Protokoll: Kobell.

Anwesend:

König Max Joseph.

Staats- und Konferenzminister: Reigersberg.

Geheime Räte: Graf v. Preysing-Hohenaschau; Graf v. Toerring-Gutenzell; Freiherr v. Weichs; v. Zentner; Graf v. Thurn und Taxis; Franz v. Krenner; Freiherr v. Aretin; v. Effner; v. Schenk; Freiherr v. Asbeck; v. Feuerbach; Graf v. Welsberg.

Fall Reisach

Effner spricht über den Fall des Generalkommissärs Graf von Reisach, dem Unterschlagungen vorgeworfen werden. Der letzte Vortrag in dieser Sache liegt über ein Jahr zurück. Zu prüfen ist, ob Reisach wegen der Entnahme von Geldern des Leihhauses in Augsburg vor Gericht zu stellen ist. Effner betont, daß sein Antrag sich einzig auf Recht und Gesetz gründet; politische und moralische Rücksichten sind außer Acht zu lassen. Nach eingehender Untersuchung kommt Effner zu dem Ergebnis, daß Graf Reisach nicht vor Gericht zu stellen ist. Die Geheimen Räte äußern sich ausführlich zu dem Antrag Effners und bestätigen ihn einstimmig.

{1r} Seine Majestät der König, Allerhöchst welche geruheten, der auf heute angeordneten geheimen Raths Versammlung {1v} beizuwohnen, ertheilten dem königlichen geheimen Rathe von Effner den Auftrag, den wegen Vorgerichtstellung des königlichen General-Kommißärs des Iller-Kreises Grafen von Reisach bearbeiteten Vortrag zu erstatten.

Diesem allerhöchsten Befehle die schuldige Folge leistend, trugen geheimer Rath von Effner den dem Protokolle lytographirt anliegenden *Beilage I* [Marginalie] Vortrag vor2114, und bemerkten darin, wie Sie rüksichtlich des heute vorzunehmenden Gegenstandes bereits schon zweimal umständlichen schriftlichen Vortrag zu erstatten die Ehre gehabt2115. Sie wiederholten die Veranlaßungen hiezu, und äußerten, da der königliche geheime Rath nunmehr in lezter Instanz über die wichtige Frage zu entscheiden habe: ob der General Kommißär Graf von Reisach wegen einem aus dem Leihehauße zu Augsburg entnommenen Kapital vor Gericht gestellt und mit ihme die Spezial-Untersuchung vorgenommen werden solle? und da es nach dem allerhöchsten königlichen Beschluße allerdings in der Macht und in dem Befunde dieser hohen Versammlung stehe, ohngeachtet des gegen die Statthaftigkeit der Spezial Untersuchung von dem königlichen Appellazions Gerichte nach vorgängiger General-Untersuchung erstatteten Gutachtens doch die Vorgerichtstellung {2r} zu erkennen, so hielten Sie sich für verpflichtet, den gegenwärtigen Vortrag sowohl in Anführung der Geschichte als des Akten-Auszuges und des mit Aufzälung der für und wider die zu entscheidende Frage streitenden Gründen beizufügenden Antrages vollständig und umfaßend zu machen.

Sie hätten daher Ihren Vortrag in folgende Rubriken eingetheilt. 1) Geschichte und Veranlaßung der Untersuchung, 2) Summarischer Verlauf der General Untersuchung, 3) Auszug der Akten und zwar a) in Hinsicht auf die Herausnahme des Leihehauß-Kapitals, b) in Hinsicht auf die Verwendung deßelben, 4) Gutachten des Appellazions Gerichtes über die Nichtstatthaftigkeit der Spezial Untersuchung mit Anfügung der für und wider streitenden Gründen, 5) Antrag des Referenten. Dieser Ordnung des Vortrages nach führten geheimer Rath von Effner die fünf Abtheilungen deßelben an, und stellten nach Abgebung Ihres endlichen allerunterthänigsten Gutachtens mehrere Säze auf, welche nach Ihrer Meinung in dem vorliegenden Falle berüksichtiget werden müßten.

{2v} Dabei erklärten von Effner, daß, da der königliche geheime Rath bei Abgabe des Gutachtens über die Vorgerichtstellung der Staatsbeamten2116 eine rein richterliche Behörde seie, welche nur von rechtlichen und streng juridischen Grundsäzen und Ansichten aus[zu]gehen, dann die Gründe der Politik, wie auch die Ansichten und Urtheile des moralischen Gefühles ganz bei Seite zu sezen, und dieselbe so wie die hiernach zu nehmende Maaßregeln gleichwohl den einschlägigen Ministerien zu überlaßen habe, Sie sich verbunden glaubten, jeden Laut Ihres bei diesem Antrage sprechenden inneren Antheiles, so weit dieses nicht von Rechtsgründen ausgehe, zu unterdrüken, und Ihr unzielsezliches Gutachten nur auf strenge und kalte Aphorismen des Rechtes zu stüzen.

Nach Beantwortung der aufgestellten Säzen und nach Vorlegung aller sowohl für als gegen den Grafen von Reisach nach juridischer Prüfung unter Anwendung der in dem vorliegenden Falle zum Grunde zu legenden gemeinen Rechten (peinliche Halsgerichts Ordnung Kaiser Carl V.2117) sprechenden Gründen, äußerten geheimer Rath von Effner Ihr gehorsamstes Gutachten dahin: „daß gegen den Grafen von Reisach die Vorgerichtstellung über das angeschuldigte Verbrechen der Unterschlagung öffentlicher Gelder nicht statt finde. Wenn dieser Beschluß {3r} von Seiner Königlichen Majestät bestätiget seie, so werde derselbe dem Appellazions Gerichte zu eröfnen und die Akten zurükzusenden sein. Sollte es dem Grafen von Reisach beifallen, nach diesem Beschluße auf eine gänzliche Lossprechung oder Genugthuung anzutragen, so würde hierüber das Appellazions Gericht nach seinem eigenen Beschluße, nach welchem ein beträchtlicher doch zur Spezial-Untersuchung nicht zureichender Verdacht noch auf ihme ruhe, zu bescheiden wißen. Die administrative Maaßregeln seien übrigens Gegenstand des einschlägigen königlichen Ministeriums.“

Da Seine Majestät der König während diesem Vortrage wegen anderweitigen wichtigen Geschäften die geheime Raths Sizung verlaßen, und dem königliche[n] geheime[n] Staats und Konferenz Minister Herr[n] Graf[en] von Reigersberg befohlen hatten, den Vorsiz zu übernehmen, und solchen zu vollenden, so verfügten Dieselben über den Antrag des Referenten die Umfrage.

Geheimer Rath Graf von Preising glaubten nicht, daß den dem Grafen von Reisach zu Last fallende Handlungen ein Dolus2118 zum Grunde läge, sondern daß die Lage deßelben in jenen stürmischen {3v} Kriegszeiten bei der Anwesenheit der französischen Armee, bei der nicht zu umgehenden Verpflegung der französischen Generäle und Offiziere die Herbeischaffung der hiezu nöthigen Gelder, welche in den Kaßen damals nicht vorräthig gewesen, entschuldigten, und nur dieses ihme als Culpa angerechnet werden könne, daß er nicht bei den ihme vorgesezten höheren Behörden die Aufnahme dieser Gelder angezeigt. Sie vereinigten sich daher vollkommen mit dem Antrage des Referenten, und fanden keinen Grund, aus welchem Graf von Reisach wegen dem über seine Abrechnung verhängten Prozeße, den er selbst wegen mangelnder Ausweisung erhobener Gelder veranlaßt, zu einer Reklamazion oder Satisfactions Klage berechtiget.

Geheimer Rath Graf von Törring äußerten, daß sich über das in dem Vortrage entwikelte Benehmen des Grafen von Reisach viel denken und viel vermuthen laße, allein als Richter laße sich nicht anders sprechen, als Referent gesprochen, mit dem Sie sich auch vollkommen vereinigten. Geheimer Rath Freiherr von Weichs stimmten nach gleichen Ansichten.

Geheimer Rath von Zentner beurtheilten den Karakter der dem Grafen von Reisach zu Last {4r} liegenden Handlungen durch den Referenten des Appellazions Gerichtes und den geheimen Raths Referenten richtig bezeichnet, und eben so richtig, daß der Karakter eines Verbrechens darin nicht zu finden, da, wie die Sache liege, kein Dolus sich zeige. Aus den angeführten Umständen und nach Kenntniß des persönlichen Karakters des Grafen von Reisach laße sich eher auf eine Überschreitung der Amtsgewalt aus zu großem Eifer und auf einen nicht zu billigenden Leichtsinn in Ausfindigmachung und Anwendung der Mittel, die derselbe zu Erreichung seines Zwekes dienlich geglaubt schließen, welches Benehmen zwar allerdings eine Ahndung verdiene, die aber, da die Verwendung der erhobenen öffentlichen Gelder dargethan, und kein Verbrechen vorhanden, nicht der Richter, sondern die oberste Administrativ Behörde auszusprechen habe. Sie vereinigten sich vollkommen mit dem Antrage des Referenten.

Geheimer Rath Graf von Tassis äußerten sich aus den in anliegendem Voto2119 angeführten Gründen mit dem Antrage des Referenten verstanden. *Beilage II* [Marginalie]

Geheimer Rath von Krenner stimmten mit dem Referenten um so mehr, als der Moment berüksichtiget werden müße, in welchem Graf {4v} von Reisach die ihme zu Last gelegte Handlung begangen, der wie Sie glaubten, bei Beurtheilung derselben sehr wichtig seie.

Geheimer Rath Freiherr von Aretin äußerten, daß nach richterlichen Ansichten nicht anders geschloßen werden könne, als der geheime Raths Referent in seinem Antrage gethan, und Sie sich daher auch vollkommen damit vereinigten, nur könnte bei einer administrativen Beurtheilung der angegebenen Fällen der Umstand allerdings von Wichtigkeit sein, daß Graf von Reisach in der Zeit, wo er sich diese Gelderhebungen eigenmächtig erlaubt, allerdings in den Stand gesezt gewesen, die Anzeige hievon der ihme vorgesezten höheren Behörde zu machen, und die Genehmigung seiner Maaßregeln zu erholen, da zu gleicher Zeit, wo er diese ins Werk gesezt, der allerhöchste Hof und das königliche Ministerium in Augsburg anwesend gewesen, und Graf von Reisach füglich Seiner Majestät dem Könige und dem königlichen Herrn Minister Grafen von Montgelas über die Vorgänge referiret habe. Geheimer Rath von Schenk theilten diese vom geheimen Rathe Freiherrn von Aretin gemachte Bemerkung, waren aber in der Haupt-Sache mit dem {5r} Antrage des geheimen Raths Referenten verstanden.

Die geheimen Räthe Freiherr von Asbek, von Feuerbach und Graf von Welsperg erklärten sich mit dem Antrage des geheimen Raths Referenten verstanden. In Folge dieser einstimmigen Meinung der königlichen geheimen Rathen

wurde an Seine Majestät den König der allerunterthänigste Antrag beschloßen: „daß gegen den Grafen von Reisach die Vorgerichtstellung über das angeschuldigte Verbrechen der Unterschlagung öffentlicher Gelder, nicht statt finden sollte. Wenn dieser Beschluß von Seiner Majestät dem Könige bestätiget seie, so werde derselbe dem Appellazions-Gerichte zu eröfnen und die betreffenden Akten zurükzusenden sein. Sollte es dem Grafen von Reisach beifallen, nach diesem Beschluße auf eine gänzliche Lossprechung oder Genugthuung anzutragen, so würde hierüber das Appellazions Gericht nach seinem eigenen Beschluße, nach welchem ein beträchtlicher, doch zur Spezial-Inquisizion nicht zureichender Verdacht noch auf ihm ruhe, zu bescheiden wißen. Die administrative {5v} Maaßregeln seien übrigens Gegenstand des einschlägigen königlichen Ministeriums.

Der König genehmigt den Antrag des Geheimes Rates, „wornach bei der Acten Laage gegen den General-Commißaire Grafen von Reisach keine fernere gerichtliche, sondern nur Disciplinar Einschreitungen statt finden sollen (23. November 1812).

Anmerkungen

2114

Der Vortrag liegt dem Protokoll nicht bei.

2115

Vgl. Protokoll Nr. 25 (Geheimer Rat vom 4. Juli 1811), TOP 4 sowie Protokoll Nr. 42 (Geheimer Rat vom 31. Oktober 1811), TOP 1.

2116

Zur entsprechenden Kompetenz vgl. OE betr. die „Bildung des geheimen Raths“ vom 4. Juni 1808, Tit. II, Art. 7 a, RegBl. 1808, Sp. 1332.

2117

Die auf dem Reichstag zu Regensburg 1532 verabschiedete Peinliche Gerichtsordnung Kaiser Karls V. und des Heiligen Römischen Reichs (Constitutio Criminalis Carolina, CCC) war in erster Linie eine Strafprozeßordnung, enthielt aber auch materielles Strafrecht. Sie bildete als „Leitordnung“ (ohne eine umfassende Kodifikation zu sein und den Anspruch unbedingter Geltung zu erheben) die Rechtsgrundlage des (all)gemeinen Kriminalprozesses, näherhin des gerichtlichen Verfahrens in Strafsachen. Die Carolina wurde noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts in der juristischen Literatur an erster Stelle der Quellen des gemeinen peinlichen Rechts genannt; im Prozeß gegen die badischen Revolutionäre 1848/49 war sie geltendes Recht (vgl. Reimann, Carolina). Authentischer Druck: DEs allerdurchleuchtigsten großmechtigstē vnüberwindtlichsten Keyser Karls des fünfften: vnnd des heyligen R[oe]mischen Reichs peinlich gerichts ordnung/ auff den Reichszt[ae]gen zů Augspurgk vnd Regenspurgk iñ jaren dreissig/ vñ zwey vnd dreissig gehalten/ auffgericht vnd beschlossen, [Mainz: Schöffer 1533] = VD16 D 1069. Präsentation auf DRQEdit: URL: http://drw-www.adw.uni-heidelberg.de/drqedit-cgi/zeige?index=siglen&term=ccc%201532%201533&firstterm=augsbrelfriede%201555 (Aufruf: 22.1.2020).

Die CCC hat zahlreiche Nachdrucke und Kommentierungen erfahren (dazu Rüping, Carolina). Gesetzestext zuletzt gedruckt z.B. bei Buschmann (Hg.), Textbuch, Nr. II.3, S. 103-177. Zu Inhalt und Bedeutung der CCC vgl. Lieberwirth, Art. C. C. C., in: HRG2 Bd. 1, Sp. 885-890; Ignor, Geschichte, S. 41-44 (Zitat S. 42), 60-73, 78-82; Sellert/Rüping, Studien- und Quellenbuch Bd. 1, S. 193f., 198-200 (allgemeine Würdigung, bes. S. 200 Anm. 63), 201-211; Rüping/Jerouschek, Grundriss, S. 40-48; Schlosser, Rechtsgeschichte, S. 88-95.

2118

Dolus: der Vorsatz. Hevelke, Handwörterbuch, S. 267 s.v.

2119

Das Votum liegt dem Protokoll nicht bei.